Das Ende freier Arten
Das Cola-Tamagotchi
Bei mir um die Ecke gab es bis vor kurzem einen sehr kleinen, feinen Plus-Laden. Es war der einzige Supermarkt in der Gegend, in dem die Einkaufswagen noch frei und ungebunden waren und nicht wie amerikanische chain gangs aneinander gekettet wurden. Diese frei lebenden Einkaufswagen waren denn auch viel kleiner als ihre versklavten Artgenossen. Bei Wildpferden ist das ja ähnlich. Anders hätten die Wagen auch nicht durch die schmalen Plus-Gänge gepasst.
Als ich an einem der letzten Tage vor der Ladenschließung eines dieser wendigen Wägelchen um die verwinkelten Ecken schob, fiel mein Blick auf eine Cola-Flasche. Im Gegensatz zu den Einkaufswagen war sie sehr wohl angebunden: Sie hing an einer hundeleinenähnlichen Kordel vom Handgelenk eines sehr bärtigen Mannes herab, ungefähr 10 cm über dem Boden. Der Mann war im besten Jesus-Alter und sah auch aus wie ein Bibelfilmstatist. Er bewegte sich langsam und verträumt an der Kühltheke vorbei. Die Flasche hing auf Höhe seiner Knöchel und schwang nicht ein einziges Mal irgendwo gegen - selbst dann nicht, als der Mann den Gang zur Kasse entlangging, zahlte und seinen Einkauf mitnahm. Es war erstaunlich. Die Kordel war ca. 60 cm lang. Schon der kleinste Handschlenker hätte die Flasche ausschlagen lassen müssen - ein Seismograph der motorischen Unruhe. War dies eine Art Meditationshilfe? Ein Hundeersatz? Ein Tamagotchi unplugged? Ein Rätsel. Gestern habe ich den Bibelfilmstatisten wieder gesehen. Er strahlte dieselbe Bescheidenheit und Ruhe aus, aber die Cola-Flasche hatte er nicht mehr dabei. Vielleicht ist sie ihm entlaufen und lebt jetzt zusammen mit den alten Plus-Einkaufswagen ein wildes und gefährliches Leben in Freiheit.
taz Berlin lokal Nr. 7847 vom 16.12.2005
Bei mir um die Ecke gab es bis vor kurzem einen sehr kleinen, feinen Plus-Laden. Es war der einzige Supermarkt in der Gegend, in dem die Einkaufswagen noch frei und ungebunden waren und nicht wie amerikanische chain gangs aneinander gekettet wurden. Diese frei lebenden Einkaufswagen waren denn auch viel kleiner als ihre versklavten Artgenossen. Bei Wildpferden ist das ja ähnlich. Anders hätten die Wagen auch nicht durch die schmalen Plus-Gänge gepasst.
Als ich an einem der letzten Tage vor der Ladenschließung eines dieser wendigen Wägelchen um die verwinkelten Ecken schob, fiel mein Blick auf eine Cola-Flasche. Im Gegensatz zu den Einkaufswagen war sie sehr wohl angebunden: Sie hing an einer hundeleinenähnlichen Kordel vom Handgelenk eines sehr bärtigen Mannes herab, ungefähr 10 cm über dem Boden. Der Mann war im besten Jesus-Alter und sah auch aus wie ein Bibelfilmstatist. Er bewegte sich langsam und verträumt an der Kühltheke vorbei. Die Flasche hing auf Höhe seiner Knöchel und schwang nicht ein einziges Mal irgendwo gegen - selbst dann nicht, als der Mann den Gang zur Kasse entlangging, zahlte und seinen Einkauf mitnahm. Es war erstaunlich. Die Kordel war ca. 60 cm lang. Schon der kleinste Handschlenker hätte die Flasche ausschlagen lassen müssen - ein Seismograph der motorischen Unruhe. War dies eine Art Meditationshilfe? Ein Hundeersatz? Ein Tamagotchi unplugged? Ein Rätsel. Gestern habe ich den Bibelfilmstatisten wieder gesehen. Er strahlte dieselbe Bescheidenheit und Ruhe aus, aber die Cola-Flasche hatte er nicht mehr dabei. Vielleicht ist sie ihm entlaufen und lebt jetzt zusammen mit den alten Plus-Einkaufswagen ein wildes und gefährliches Leben in Freiheit.
taz Berlin lokal Nr. 7847 vom 16.12.2005