30.9.05

Kunst darf alles.

Auch glücklich machen.

21.9.05

Der frühe Vogel

In Berlin fangen viele Partys definitiv zu spät an. Konzerte, die um drei Uhr nachts stattfinden, wenn nicht nur das Publikum, sondern auch die Band völlig hinüber ist, machen eigentlich niemandem Spaß. Eine Zeit lang gab es daher – durch amerikanische Fernsehserien inspiriert – so genannte After Work Partys, die sich aber nicht richtig durchsetzen konnten. Früh kann eben auch zu früh sein. Und vielleicht mögen Berliner ihre Partys doch zumindest ein kleines bisschen exzessiver, als es anorektische Anwältinnen im TV rüberbringen.

Ich gehe jedenfalls nicht gern sehr früh in Clubs, aber manche Leute sehen nicht ein, warum sie warten sollen, bis sie müde sind, bevor sie ausgehen. So auch meine alte Freundin und ihre neueren Freundinnen. Sie mögen es, wenn die Tanzfläche noch schön frei ist. Vollkommen ausgestorben, leer wie die Antarktis, kein Mensch in Sicht, eine große, weite Fläche, wie ein Ozean. Manche Leute animiert das zum Tanzen. Man könnte natürlich auch auf den nächsten Lidl-Parkplatz gehen, da müsste man nur bis kurz nach acht warten und hätte dann massig Platz. Zugegeben: Es gibt dort keine Musik. Aber in Zeiten von iPod oder wenigstens Discman sollte das kein unüberwindbares Problem sein.

So fuhr ich also mit meiner Freundin nach Mitte, um eine Tanzveranstaltung zu besuchen, die schon von sich aus nicht gerade zu den szenigsten Geheimtipps der Stadt zählt. Und das um 23h. Es hätte schlimmer kommen können: Ihre Freundinnen waren schon ab 21:20 vor Ort. Als meine Freundin versuchte, an einer nicht dafür freigegebenen Straßenecke zu parken, kam ein junger Polizist vorbei und erklärte uns, dass wir weiter fahren müssten. Sie fragte ihn, wo sie denn sonst parken könne, wir wollten zu besagter Veranstaltung. Das brachte uns nicht nur einen brauchbaren Parkplatzhinweis ein, sondern auch die ungläubige Frage „Was wollen Sie denn da um diese Uhrzeit?“ Wir waren früher, als die Polizei erlaubt.

Aber Leute, die wegen der freien Tanzfläche gerne früh in Clubs gehen, zahlen auch äußerst ungern Eintritt. Wenn, dann wollen sie sicher gehen, für ihr Geld genug Amüsement zu bekommen – also gehen sie möglichst früh. Und trinken eher wenig, denn sie sehen nicht ein, warum sie an der Bar mehr für ein Glas Weinschorle zahlen sollen, als sie sonst für die ganze Flasche ausgeben.

Es ist sehr schwer, diesen Argumenten zu begegnen. Weil sie nämlich das ganze Konzept des Ausgehens und des Clubs total negieren. Rein ökonomisch gesehen haben sie nämlich Recht – ein Drink im Club kostet wirklich mehr, als die ganze Flasche zuhause, es ist wirklich sinnvoller, vor sechs Uhr morgens schlafen zu gehen und somit ist es auch sinnvoller, Partys vor halb zwei Uhr nachts anfangen zu lassen. Man hat tatsächlich um halb zehn mehr Platz auf der Tanzfläche als dreieinhalb Stunden später. Ökonomisch gesehen ist es sinnvoll, sich antizyklisch zu verhalten. Meine besagten Freundinnen waren außerdem alle verheiratet und wollten außer dem DJ niemandem schöne Augen machen. Und der DJ konnte sie ja auf der menschenleeren Tanzfläche viel besser sehen! Ich hätte natürlich anfangen können, über Bourdieu, symbolisches Kapital, die Zeichenwelt des Clublebens oder sonstige Poptheorie zu schwadronieren, aber erstens habe ich davon – man merkt’s – keine Ahnung und zweitens hätte es sie nicht die Bohne interessiert. Das einzige Argument, das mir einfiel war: Es ist uncool. Und da dies Argument, in diesem Zusammenhang vorgebracht, in sich der Gipfel des Uncoolen ist, erledigte es sich sozusagen von selbst.

Wenn ich groß bin, will ich Zettel

Als ich noch klein und jung war, wollte ich, wenn ich mal groß bin, einen Beruf mit vielen Zetteln haben. Zettel fand ich gut, sie schienen wichtig zu sein, man konnte drauf schreiben und vor allem ganz viel lesen, man konnte damit rascheln und sie in Aktentaschen legen. Sie sahen immer sehr ordentlich aus, weiß mit ein bisschen Schrift, sauber und glatt. Dazu muss man wissen, dass mein Vater einen Beruf hatte, der mit internationalen Rohstoffpreisen und der Börse zusammenhing. Ich glaube, sein Geschäft war sehr tagesaktuell und die Zettel wurden nie besonders alt. Viele von ihnen landeten tatsächlich relativ schnell in meinem Besitz. Wer weiß, ob das gut war und welche internationalen Handelsinformationen da in meine nichts ahnenden Hände fielen. Zum Glück konnte ich damals (mangels Erfahrung) ebenso wenig damit anfangen wie heute (mangels Kapital) und so blieb Vater und Tochter die Vorstrafe wegen Insidertradings erspart.

(Zur Adventszeit brachte mein Vater übrigens auch rollenweise gelbes Tickerpapier für Reuterticker mit, aus dem meine Mutter dann sehr ausgefeilte Weihnachtssterne fertigte. Die Wertschöpfungskette war komplett.)

Als ich schließlich lesen konnte, beschlich mich umgehend ein sehr unheimliches Gefühl. Mir war, als sei die Welt von nun an all ihrer Geheimnisse beraubt. Ich konnte alles lesen, und das meiste davon war – sturzlangweilig! Was für eine Enttäuschung. Dazu kam, dass ich nie wieder das Gefühl haben würde, das ich hatte, als ich noch nicht lesen konnte. Nie wieder würde ich mit der Unschuld der Ahnungslosen hinter jedem geschriebenem Wort alles und nichts vermuten können. Zum Glück fiel mir ziemlich bald ein, dass es ja auch noch chinesische und japanische Schrift gab. Und viele andere. Eine Tatsache, für die ich nach wie vor dankbar bin.

An der Uni hatte ich schließlich selbst viele Zettel. Viele, viele Zettel, so viele, dass die letzten von ihnen immer noch irgendwo in meinem Umfeld vergilben. Feng Shui hin oder her. Das Problem mit Uni-Zetteln ist, dass sie alle irgendwie wichtig erscheinen, sammelt sich doch auf ihnen scheinbar hart erarbeitete und zum Teil über die Jahrhunderte gereifte Erkenntnis. Im Gegensatz zu meines Vaters Zetteln waren die an der Uni nicht im geringsten tagesaktuell. Also bewahrt man die Zettel alle auf. Jedenfalls eine Zeit lang. Wahrscheinlich ist ein Studium erst dann komplett abgeschlossen, wenn alle Zettel entsorgt sind. Ich stehe kurz davor.

Und eines Tages war ich dann Texterin. Jetzt darf ich meine eigenen Zettel beschreiben, brauche dazu im seltensten Fall (obwohl es auch den schon gab) Fußnoten, und alle freuen sich, wenn nicht zu viel auf einem Zettel drauf steht. Ich kann meine Zettel überall hin mitnehmen, ich kann sie stapeln und ich kann immer wieder neue ausdrucken. Was soll ich sagen: Ich mag meinen Beruf. Er hat weitaus weniger Glamour, als scheinbar landläufig angenommen wird, aber ich habe endlich, endlich den unbeschwerten, haptischen, freundschaftlichen und auch noch inhaltlich unterfütterten Bezug zu Zetteln, den ich mir immer gewünscht habe.