21.9.05

Wenn ich groß bin, will ich Zettel

Als ich noch klein und jung war, wollte ich, wenn ich mal groß bin, einen Beruf mit vielen Zetteln haben. Zettel fand ich gut, sie schienen wichtig zu sein, man konnte drauf schreiben und vor allem ganz viel lesen, man konnte damit rascheln und sie in Aktentaschen legen. Sie sahen immer sehr ordentlich aus, weiß mit ein bisschen Schrift, sauber und glatt. Dazu muss man wissen, dass mein Vater einen Beruf hatte, der mit internationalen Rohstoffpreisen und der Börse zusammenhing. Ich glaube, sein Geschäft war sehr tagesaktuell und die Zettel wurden nie besonders alt. Viele von ihnen landeten tatsächlich relativ schnell in meinem Besitz. Wer weiß, ob das gut war und welche internationalen Handelsinformationen da in meine nichts ahnenden Hände fielen. Zum Glück konnte ich damals (mangels Erfahrung) ebenso wenig damit anfangen wie heute (mangels Kapital) und so blieb Vater und Tochter die Vorstrafe wegen Insidertradings erspart.

(Zur Adventszeit brachte mein Vater übrigens auch rollenweise gelbes Tickerpapier für Reuterticker mit, aus dem meine Mutter dann sehr ausgefeilte Weihnachtssterne fertigte. Die Wertschöpfungskette war komplett.)

Als ich schließlich lesen konnte, beschlich mich umgehend ein sehr unheimliches Gefühl. Mir war, als sei die Welt von nun an all ihrer Geheimnisse beraubt. Ich konnte alles lesen, und das meiste davon war – sturzlangweilig! Was für eine Enttäuschung. Dazu kam, dass ich nie wieder das Gefühl haben würde, das ich hatte, als ich noch nicht lesen konnte. Nie wieder würde ich mit der Unschuld der Ahnungslosen hinter jedem geschriebenem Wort alles und nichts vermuten können. Zum Glück fiel mir ziemlich bald ein, dass es ja auch noch chinesische und japanische Schrift gab. Und viele andere. Eine Tatsache, für die ich nach wie vor dankbar bin.

An der Uni hatte ich schließlich selbst viele Zettel. Viele, viele Zettel, so viele, dass die letzten von ihnen immer noch irgendwo in meinem Umfeld vergilben. Feng Shui hin oder her. Das Problem mit Uni-Zetteln ist, dass sie alle irgendwie wichtig erscheinen, sammelt sich doch auf ihnen scheinbar hart erarbeitete und zum Teil über die Jahrhunderte gereifte Erkenntnis. Im Gegensatz zu meines Vaters Zetteln waren die an der Uni nicht im geringsten tagesaktuell. Also bewahrt man die Zettel alle auf. Jedenfalls eine Zeit lang. Wahrscheinlich ist ein Studium erst dann komplett abgeschlossen, wenn alle Zettel entsorgt sind. Ich stehe kurz davor.

Und eines Tages war ich dann Texterin. Jetzt darf ich meine eigenen Zettel beschreiben, brauche dazu im seltensten Fall (obwohl es auch den schon gab) Fußnoten, und alle freuen sich, wenn nicht zu viel auf einem Zettel drauf steht. Ich kann meine Zettel überall hin mitnehmen, ich kann sie stapeln und ich kann immer wieder neue ausdrucken. Was soll ich sagen: Ich mag meinen Beruf. Er hat weitaus weniger Glamour, als scheinbar landläufig angenommen wird, aber ich habe endlich, endlich den unbeschwerten, haptischen, freundschaftlichen und auch noch inhaltlich unterfütterten Bezug zu Zetteln, den ich mir immer gewünscht habe.

1 Comments:

Anonymous Anonym said...

Was für eine wunderschöne Wegbeschreibung ... find ich *toll*, dass man deine Texte jetzt hier lesen kann!! Auch die Farben und das Layout find ich gut, meine Blogschwester!

In Liebe, Antje

12:38  

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