26.12.05

Das Ende freier Arten

Das Cola-Tamagotchi

Bei mir um die Ecke gab es bis vor kurzem einen sehr kleinen, feinen Plus-Laden. Es war der einzige Supermarkt in der Gegend, in dem die Einkaufswagen noch frei und ungebunden waren und nicht wie amerikanische chain gangs aneinander gekettet wurden. Diese frei lebenden Einkaufswagen waren denn auch viel kleiner als ihre versklavten Artgenossen. Bei Wildpferden ist das ja ähnlich. Anders hätten die Wagen auch nicht durch die schmalen Plus-Gänge gepasst.

Als ich an einem der letzten Tage vor der Ladenschließung eines dieser wendigen Wägelchen um die verwinkelten Ecken schob, fiel mein Blick auf eine Cola-Flasche. Im Gegensatz zu den Einkaufswagen war sie sehr wohl angebunden: Sie hing an einer hundeleinenähnlichen Kordel vom Handgelenk eines sehr bärtigen Mannes herab, ungefähr 10 cm über dem Boden. Der Mann war im besten Jesus-Alter und sah auch aus wie ein Bibelfilmstatist. Er bewegte sich langsam und verträumt an der Kühltheke vorbei. Die Flasche hing auf Höhe seiner Knöchel und schwang nicht ein einziges Mal irgendwo gegen - selbst dann nicht, als der Mann den Gang zur Kasse entlangging, zahlte und seinen Einkauf mitnahm. Es war erstaunlich. Die Kordel war ca. 60 cm lang. Schon der kleinste Handschlenker hätte die Flasche ausschlagen lassen müssen - ein Seismograph der motorischen Unruhe. War dies eine Art Meditationshilfe? Ein Hundeersatz? Ein Tamagotchi unplugged? Ein Rätsel. Gestern habe ich den Bibelfilmstatisten wieder gesehen. Er strahlte dieselbe Bescheidenheit und Ruhe aus, aber die Cola-Flasche hatte er nicht mehr dabei. Vielleicht ist sie ihm entlaufen und lebt jetzt zusammen mit den alten Plus-Einkaufswagen ein wildes und gefährliches Leben in Freiheit.

taz Berlin lokal Nr. 7847 vom 16.12.2005

10.12.05

Das schönste Werbefax von allen

Werbefaxe nerven und kosten Geld, deswegen darf man sie eigentlich auch nicht unangefordert verschicken. Das mit dem Geld ist mir relativ egal, weil ich noch nie ausgerechnet habe, wie viel Toner oder in meinem Fall Thermopapier ein Werbefax mittlerer Länge und Schwarzlastigkeit kostet, aber das Klingeln und die enttäuschte Erwartung nerven wirklich sehr.

Jetzt aber kam ein Werbefax, das mich in seinen Bann zog, und zwar ausgerechnet aus China, dem Land des Lächelns, das ja angeblich boomt wie nix. Das Fax war auf Englisch verfasst und sollte der Geschäftsanbahnung dienen. Die Brache schien dabei nachrangig zu sein; irgendwas (im Sinne von was-auch-immer) sollte ein- oder ausgeführt werden. Nur eine einzige Einschränkung gab es, verpackt in die nach Werbeerkenntnissen korrekt an den Schluss gestellte Handlungsaufforderung: “Please call us if you’re interesting”.

Das war doch mal ein nachvollziehbares Anliegen. Hier wollte jemand Kontakt aufnehmen, sogar über Kontinente und Sprachbarrieren hinweg, gleichzeitig ahnend, dass ein solcher Ruf in die Weiten auch von den Falschen vernommen werden kann. Doch wollte er über niemanden richten. Selbst offensichtlich zu höchster Selbsterkenntnis fähig, traute er auch anderen zu, ihre Mängel zu erkennen und sich höflich zurückzuhalten. Allerdings frage ich mich, ob er damit so richtig lag. Ich fürchte, es sind eher die Interessanten unter seinen Adressaten, die, mit Selbstzweifeln bestens vertraut, sich als nicht interesting genug erachten, um Kontakt aufzunehmen. Die Dumpfbacken hingegen hätten damit vermutlich kein Problem.

Ich bin gespannt, wie das deutsch-chinesische Geschäft so anläuft. Könnte interessant werden.

6.12.05

Da hat man jahrhundertelang unfallfrei Stullen gegessen und nun das:


...im Berliner Südwesten kennt man noch echte Gefahren Posted by Picasa

1.12.05

Das lange Vorspiel: Advent

In einer der jüngsten Werbemails fragt IKEA seine Kunden ganz rücksichtsvoll, wie viel Advent sie schon zu ertragen bereit seien. Ich wünschte, das täten alle. Die Saisonware im Supermarkt könnte diskret in Hinterzimmern platziert werden, die dann von Dominostein-Junkies und Weihnachtskugelfetischisten mit leicht errötenden Ohren aufgesucht würden. Die, die es mögen, könnten dort Vorfreude in instant satisfaction verwandeln. Der Mensch ist ja nicht schlecht, nur weil er Adventszubehör mag, und die so Betroffenen sollte man nicht stigmatisieren – Verpackung auf Wunsch in neutralen Tüten.

Advent ist die Zeit der Begehrlichkeiten, der aufgeschobenen Befriedigung und des verlängerten Verlangens. Kein Wunder also, dass gerade in der Adventszeit die erstaunlichsten psychischen Dynamiken zutage treten. Mein Freund Kurt zum Beispiel verbraucht pro Saison ca. 5-6 Adventskalender von der mit qualitativ fragwürdiger Schokolade bestückten Sorte. Ich nehme an, dies ist sein Versuch, die eigene Sucht zu bezähmen und den Verzehr auf ein Stückchen pro Tag zu begrenzen. Zumindest ist das die einzig sinnvolle Erklärung. Um Genuss kann es hier nicht gehen, den bietet die Schokolade nämlich nicht. Also Suchtbekämpfung. Allein: Der Plan schlägt fehl. Immer wieder. Sobald der aktuelle Tag des Countdown überschritten, das eine Fensterchen zuviel aufgemacht, das eine Stückchen zuviel gegessen wurde, ist das Projekt gescheitert. Dann isst Kurt resigniert die gesamte bis zum 24. verbleibende Schokolade auf und kauft den nächsten Adventskalender. Es ist wahr, ich habe die Stapel entweihter und ausgeweideter Pappschachteln gesehen.

Wenn Advent das ausgedehnte Ausschlachten eines vermeintlichen Höhepunktes ist, das lange Vorspiel, dann kommt Kurt immer zu früh. Das dafür mehrmals.

29.11.05

Simplify your Mind

Wir leben in komplexen Zeiten. Alles hängt mit allem zusammen. Man kann irgendwo anfangen und kommt von da überall hin. Der moderne Netzwerk-Gedanke.

Einerseits. Andererseits scheinen alle alles immer übersichtlicher haben zu wollen. Es fing an mit Feng Shui – okay, das fing vermutlich vor über 1000 Jahren an, aber so lange ist es in der westlichen Welt noch nicht bekannt. Die durchschnittliche Feng-Shui-Beraterin / Coachin hat sich vor ca. 6 Monaten selbstständig gemacht. Also Feng Shui. Abgesehen von kauzigen Regeln, die Papierkörben, Klotüren und Springbrunnen (ein must!) feste Plätze in der Wohnung zuweisen, gibt es beim Feng Shui auch immer eine Art klärendes Element. Altdeutsch nennt man es Entrümpeln. Die Praxis, jahrzehntealte Zeitschriftensammlungen, nicht mehr funktionstüchtige Elektrogeräte und ähnliches einfach wegzuschmeißen, hat heute einen esoterischen Überbau bekommen.
Ob das nun was mit der echten Feng Shui-Tradition zu tun hat oder nicht, Entrümpeln ist ein zentrales Thema post-postmoderner Heilslehren. Es nennt sich jetzt Simplifying.

Im Grunde ist Simplifying nichts anderes als Rationalisierung und damit voll Kapitalismus-kompatibel. Unterlagen, die man nicht mehr braucht, Freunde, die nerven, alle Verpflichtungen, die Energie kosten, aber nicht einbringen werden kurzerhand wegrationalisiert. Das macht das Leben simpler. Und scheinbar weniger komplex. Nur: Was passiert mit dem ganzen Überfluss an Materie und Mensch? Finden die Dinge und Freunde, von denen wir uns trennen, ein neues Zuhause? Und was macht man, wenn man selbst Opfer der Simplifizierung wird? Fragen über Fragen.

Sie sich nicht zu stellen, ist Simplifying in Vollendung: Simplify your mind.

21.11.05

Hormonelle Pufferzone

Vor Anker gehen

Es gibt Läden, die haben einen schlimmen Ruf, werden ihm voll gerecht und sind trotzdem unschlagbar gut. Früher nannte man so was wohl verrucht. Unter Menschen, die hemmungslos auf Beutezug sind, kann sich eine offene und von jeglicher verklemmten Coolness befreite Stimmung ausbreiten.

So auch in der Ankerklause, dem Abschleppladen schlechthin. Man sieht immer wieder dieselben Gesichter, und manchmal kennt man auch den dazugehörigen Rest. Dies ist kein Ort für Empfindsamkeiten, verklemmte Trainingsjackenträger oder Musiksnobs. Es ist wie am Wasserloch in der Savanne: Leben und leben lassen. Donnerstags ist Diskotag in der Ankerklause, und ich wollte ausgehen. Nach ein paar Tänzchen und Drinks stand ich rum und beguckte mir das lustige Treiben.

Ein junger Mann verwickelte mich in ein Gespräch über Körpergröße und Partnerwahl, in dessen Verlauf deutlich wurde, dass ich in Begleitung gekommen war. "Was willst du denn hier, wenn du deinen Freund mitbringst?", tadelte er mich entrüstet. Eine, wie ich fand, sehr interessante Frage, die ich, einer spontanen Eingebung folgend, umgehend und befriedigend klären konnte. Ich war nämlich als Puffermasse da! Und somit elementar wichtig. Denn wo so viel Verlangen ungefiltert abgestrahlt und durch Hitze, Enge, Alkohol und exzessiven Tanz auf kleinstem Raum verdichtet wird, kann es ohne absorbierende Puffer leicht zur Überladung kommen. Mein Gegenüber war sofort überzeugt und reagierte denn auch äußerst charmant: Er bedankte sich bei mir für meinen selbstlosen Einsatz. Höflichkeit und Charme unter hormonellen Extrembedingungen - die Welt kann nicht durch und durch schlecht sein.

3.10.05

Gestatten, Deutschland

Heute bin ich Deutschland. Und morgen?

Wieso bin eigentlich ich Deutschland? Und nicht Günther Jauch, Xavier Naidoo (okay, der ist schon Christus, aber das ginge sicher auch parallel), Sabine Christiansen und alle anderen? Die wollen’s offensichtlich nicht selbst gewesen sein. Oder sie sind eben so schon wer und können deshalb anderen sagen: Du bist Deutschland.

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